Julius Berger ist seit über 20 Jahren Künstlerischer Leiter der Eckelshausener Musiktage, einem internationalen Kammermusik Festival an der oberen Lahn in Hessen.
Julius Berger profilierte das Festival durch den Fokus auf Themen wie „Zeit und Ewigkeit“, „Edelsteine“, „Schubertiade“ um nur einige zu nennen. Im Jahr 2016 wählte Julius Berger in Absprache mit der Festivalleiterin Annemarie Gottfried das Thema „Menschlichkeit“. Die Werk- und Künstlerauswahl orientiert sich am jeweiligen Thema. Julius Berger erinnerte in seinem Vorwort zum Jahr 2016 an Pablo Casals, der von der Untrennbarkeit von Kunst und Menschlichkeit sprach. In unserer Zeit ist zweifelsohne ein Exponent, der diesem Anspruch gerecht wird, der berühmte Geiger Gidon Kremer. Aufgrund der persönlichen Nähe zu Gidon Kremer war es möglich, ihn zusammen mit seinem Kammerorchester „Kremerata Baltica“ nach Eckelshausen zu bewegen. Gidon Kremer wurde der Preis der Eckelshausener Musiktage zugesprochen, der im Abstand von zwei Jahren verliehen werden soll. Er zeichnet Künstler aus, die über ihr Fachgebiet hinaus Spuren der Humanität,der gesellschaftlichen Verantwortung und Orientierung hinterlassen. Die Laudatio anläßlich des festlichen Eröffnungskonzertes, das der Hessische Rundfunk aufzeichnete, hielt Julius Berger.
Laudatio auf Gidon Kremer
Verehrte Ehrengäste, liebe Mitglieder der Kremerata Baltica, sehr verehrte Damen und Herren, lieber Gidon,
Die Klänge von Tschaikovsky und Schumann lassen erahnen, welche Lebenserfahrungen und Lebenswege hinter diesen Werken, aber auch hinter einer derartigen Interpretation stehen.
Gustave Flaubert schreibt im Jahr 1853, drei Jahre nach Entstehung des Konzertes von Schumann: „Seltsam – mit dem Maß in dem man auf der Stufenleiter der Lebewesen nach oben gelangt, nimmt die Sensibilität, das heißt Leidensfähigkeit zu. Sollten Leiden und Denken ein und dasselbe sein? Demgemäß wäre ein Genie nur eine Verfeinerung des Schmerzes, eine vollständigere und intensivere Durchdringung unserer Seele …“
Wir haben eben das „per-sonare“, wörtlich übersetzt das „Durchklingen“ von Seelenerfahrungen erlebt. Aus dem lateinischen Wort „personare“ leitet sich das deutsche Wort „Person“ und auch „Persönlichkeit“ ab.
Eine Interpretenpersönlichkeit wie Gidon Kremer kann derartige Hörerlebnisse schenken, weil er ein Denker ist, der auch das damit verbundene Leiden kennt, weil er selber ein Hörender ist, ganz im Sinne von Luigi Nono, der einmal bemerkt, richtiges Hören, genaues Zuhören und Hineinhören verändere das Bewußtsein. Und mit diesem Bewußtsein verändert sich die Erkenntnis der Welt. Gidon Kremer ist einer der wenigen, der diese Erkenntnis sehr ernst nimmt. Für ihn stellt sie eine Maxime seines Handelns dar. Denken Sie beispielsweise an Gidon Kremers mutige, offene Briefe und Bekenntnisse, die die Ungerechtigkeit und Verfolgung in Russland benennen, an Konzerte, zuletzt in Berlin, die eine Stimme gegen die Gleichgültigkeit, gegen den Opportunismus sind und gleichzeitig eine Stimme für die Menschlichkeit.
Gidon Kremer geht mutig und konsequent den Weg seiner inneren Überzeugung. Er ordnet sich nicht den Interessen von Geld und Geltung unter und zieht sich lieber vorübergehend vom Konzertleben zurück, weil Agenten auf zugkräftige Namen setzen wollen und nicht auf die von ihm vertretene künstlerische Qualität.
Schon in meiner Studienzeit fiel mir auf, wie Gidon Kremer dem vom Schönklang verwöhnten Salzburger Festspielpublikum im Beethovenkonzert die Kadenz von Schnittke „zumutete“. Die Wege von so viel bis dahin ungehörter Musik hat Gidon Kremer bereitet: Alfred Schnittke, Erwin Schulhoff, Sofia Gubaidulina, Giya Kancheli und viele, viele mehr. Auch das zeugt von Mut im Einklang mit innerer Überzeugung:
Mut, eingefahrene Wege zu verlassen
Mut zum einsamen Weg
Mut, gegen den Strom zu schwimmen
Mut zu Wahrhaftigkeit und Menschlichkeit
Gidon Kremers Mut ERMUTIGT, Gidon ist ein Wegbereiter. Seine innere Stimme scheint mir seelenverwandt mit Gedichtzeilen von Rainer Maria Rilke:
„… Täglich stehst du mir steil vor dem Herzen
Gebirge, Gestein
Wildnis, Un – weg: Gott, in dem ich allein steige und falle und irre …
Weisend greift mich manchmal am Kreuzweg der Wind,
wirft mich hin, wo ein Pfad beginnt,
oder es trinkt mich ein Weg im Stillen …“
Weg heißt bei Gidon Kremer in der doppelten Bedeutung des Wortes auch weg:
weg von unbedachten Traditionen
weg vom „mainstream“
weg von den Zentren, zum Beispiel hierher nach Eckelshausen
weg von eingespielten Mustern
weg vom Materialismus
Wir erleben einen Menschen, der jeden seiner Schritte hinterfrägt, der seinen Weg beständig überprüft und um ihn ringt, einen Menschen, der sich auf überraschende Wege einläßt, weil sie nach seiner Überzeugung „wahr“ sind.
Gidon Kremer lebt das Motto, das auch Luigi Nono liebt: „Wanderer, es gibt keinen Weg. DU mußt gehen“
Lieber Gidon, ich kenne Deine Spuren seit meiner frühen Jugend. Wir beide sind uns in den 80-er Jahren zum erstenmal begegnet, als Du mich nach Lockenhaus eingeladen hattest. Wir haben Musik zusammen gespielt, durch Dich habe ich Schulhoff und Enesco entdeckt. Die größte Entdeckung und Prägung war für mich allerdings Deine innere Haltung. Sie hat mir Kraft gegeben für so manch einsamen Weg auf der „Suche nach einer besseren Welt“ – dies ist ein Buchtitel des bedeutenden Philosophen Karl Popper. Für die Eckelshausener Musiktage ist Deine Haltung ein Symbol für unser Thema „Menschlichkeit“.
Lieber Gidon, Du hast mich immer an ein Zitat von Ilse Aichinger erinnert: „Wir sind nicht gemeint. Gemeint ist, was an uns Licht gibt.“
Wir und so viele Menschen zehren von diesem Licht, das durch Dein Sein und durch Deinen Klang strömt. Es ist ein Widerhall Deiner Wahrhaftigkeit und Deiner Liebe.
Julius Berger, 7. Mai 2016