Das Lächeln des nicht Hörbaren

Ich hoffe, diesem Instrument gerecht werden zu können, sagte Julius Berger einmal, während er das Holz des Cello berührte.  Immer nach dem Konzert hüllt Julius Berger es in ein großes rotes Tuch und legt es in den Instrumentenkoffer, den man auf Flughäfen wahrscheinlich „Case“ nennt und der eigentlich „Suite-Case für ein Klang-Heiligtum“ heißen müsste. Julius Berger reist durch die Welt, lässt sich einholen von den Ländern.

Allerdings – so begehbar die Straßen auch sind, so deutbar die Pläne, so sichtbar die Fenster und Türen, so berührbar die Wände und Wandungen, die Stühle, Stufen, Mäntel, Noten – so unsichtbar, so sehr dem Auge verborgen ist doch die Musik. Sie hält sich in der Luft, durch die jeder Mensch mit jedem anderen auf Erden verbunden ist. Sie lässt sich atmen. Musik rührt an Musik. Julius Berger sitzt auf dem Stuhl, hält den Bogen und streicht über die Unhörbarkeit des Alls. Er trauert, er lächelt, er spielt Versteck. Die Noten dürfen sich seiner gewiss sein. Das Cello kann ihm trauen, sich ihm anvertrauen.

Das Wunder vollbracht von Julius Berger

Wenn Julius Berger Konzerte gibt, tritt irgendwann der Moment ein, da man wie in einer zweiten Wachheit aufschreckt, sich der eigenen Selbstvergessenheit bewusst wird und den Cellospieler aus den Augen verloren hat. Der vermag das Wunder zu vollbringen, hinter der Musik zu verschwinden, manchmal, für eine jahrhundertelange Sekunde. In der Welt der sichtbaren Künste, der Architektur, erweist sich ein Bauwerk als vollkommen, wenn man sich des Namens desjenigen, der es entworfen hat, urplötzlich nicht mehr erinnern kann – selbst wenn man ihn gerade noch wusste -, wenn die Präsenz des Künstlers in seinem Werk eine Dimension annimmt, da dessen Name, Titel und irdische Gestalt hinter das sichtbare Werk zurücktreten, damit das Unsichtbare sich entfalten, zu atmen beginnen kann und den Urgrund des Alls im Herzen des Betrachters berühren. Musik findet sich sichtbar in aufgeschriebenen Noten, und sichtbare Musikinstrumente dienen ihrem Hörbarwerden.

Der Musiker vermittelt. Er dient sowohl der Musik als auch dem Instrument, wobei man von Julius Berger vielleicht sagen könnte: Er spielt das Cello nicht, er bittet, er ermuntert es. Auf dieser Erde kann man in viele Räume gehen, und viel Musik bekommt man zu hören. Bei einem Konzert mit Julius Berger wird man möglicherweise all das vergessen. Es mag dann ein Moment großer Stille eintreten, als sei das Ohr ertaubt. In diesem Tonlosen offenbart sich die Musik vollkommen. Sie hüllt den Menschen in ein rotes Tuch und lässt ihn unsichtbar werden. Er steht auf, geht umher, verlässt den geschlossenen Raum, berührt die Borke des nächsten Baums vor der Tür und in diesem Baum unmittelbar den Baum aus der Zeit von vor hunderten von Jahren, als der Wind ging, als der Wald sich bewegte, als das Holz grünte, als der Baum erkannt wurde, gefällt, der Stein ausgegraben, poliert, das Tier geschlachtet, als das Cello gebaut, als die Musik geschrieben wurde, als die Zeit vorausgewusst wurde und der Schrift anverwandelt, erlöst von ihren Maßen, als die Ahnung eines Menschen Teil wurde seiner Kunstfertigkeit, einen Mantel zu nähen, ein Herz zu heilen, Papier zu schöpfen, ein Flugzeug, ein Haus, ein Cello bauen zu können, den Klang des Universums in sich selbst zu erfahren.

In der irdischen Welt kann dieses Klingen hörbar werden. Und in diesem Hörbaren erfährt man die eigene Unsichtbarkeit, die Sichtbarkeit des Klangs, die Körperlichkeit der Melodie – sie sind vom Stofflichen entbundene Poesie, wenn das Cello Julius Berger zu antworten beginnt, wenn seine fragende Bewegung den Raum der Stunde entgleiten lässt, wenn der Raum sich aufheben lässt in einem Bogenstrich. Musik rührt an Musik. Und eine Heftnadel fällt aus dem Himmelsmantel in die Tiefe. In diesem Moment duftet das Cello. In diesem Moment hört man die Farben. In diesem Moment erkennt man Julius Berger in einer lächelnden Zweiglinie der eigenen Hand.

Text: Ina Kutulas