Stufen
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Wie jede Blüte welkt und jede Jugend
Dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe,
Blüht jede Weisheit auch und jede Tugend
Zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.
Es muss das Herz bei jedem Lebensrufe
Bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
In andre, neue Bindungen zu geben.
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.
Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,
An keinem wie an einer Heimat hängen,
Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,
Er will uns Stuf‘ um Stufe heben, weiten.
Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise
Und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen,
Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,
Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.
Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde
Uns neuen Räumen jung entgegen senden,
Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden…
Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!
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Hermann Hesse
Vielleicht ist es die reinste Musik, die Suiten für Violoncello solo von Johann Sebastian Bach, eine Musik, die keiner Erklärung oder Hintergrunddeutung bedarf. Dennoch bin ich der Überzeugung, dass Johann Sebastian Bach mit den Suiten uns eines seiner großartigsten Bekenntnisse hinterlassen hat, einen „Gradus ad Parnassum“, der in sechs Stufen eine geistige und technische Herausforderung durchmisst, die einzigartig in der Geschichte der Musik für unser Instrument ist und wohl auch bleibt. Ich habe mein ganzes Leben darüber nachgedacht. Diese Musik lässt einen nicht los. In jeder Lebenslage spricht, tröstet, segnet, bestärkt, verlebendigt sie. Diese Musik ist eines jener rätselhaften Kunstwerke, denen ein Wunder anzuhaften scheint. Johann Friedrich Reichardt (1752 – 1814), Komponist und Musikschriftsteller, schrieb über die Bach´schen Violinsonaten – Gleiches gilt für die Cellosuiten – dass sie „vielleicht das größte Beispiel .. aufstellen, mit welcher Freyheit und Sicherheit der große Meister sich auch in Ketten zu bewegen weiß“, ähnlich formuliert Goethe, „…in der Beschränkung erst zeigt sich der Meister, und das Gesetz nur kann uns Freiheit geben…“
Pablo Casals spricht mir aus dem Herzen, wenn er schreibt: „How could anyone think of Bach as „cold“, when these Suites seem to shine with the most glittering kind of poetry! As I got on with studying, I discovered a new world of space and beauty, the feelings, I experienced, were among the purest and most intense of my artistic life.“
Ich habe mir immer wieder vorzustellen versucht, was wohl das Innerste von Johann Sebastian Bach bewegt hat, als er die Suiten schrieb, Bach, der uns bewegt und der selber sagt: „ALLER Musik Finis und Endursache (solle) nur zu Gottes Ehre und Recreation des Gemüths sein“ oder der in seiner Luther-Bibel notiert: „Bei einer andächtig Music ist allezeit Gott mit seiner Gnaden Gegenwart.“
Der Aspekt des Glaubens ist in die Werke Bachs eingewoben. Ich stimme meinem Kollegen Steven Isserlis zu, der die Suiten als „Mysterien“ betrachtet. Steven Isserlis geht sogar so weit, die „Rosenkranzgeheimnisse“, freudenreich – schmerzreich – glorreich, im Charakter der Suiten zu sehen, ein „katholischer“ Gedanke eines Lutheraners. Selbst das würde ich Bach zutrauen. Dieser Gedanke führt zu folgender Konzeption der Suiten: Suite Nr. 1, freudenreiches Geheimnis – Geburt Christi, Suite Nr. 2, schmerzreiches Geheimnis im Garten Gethsemane, Suite Nr. 3, glorreiches Geheimnis, Niederkunft des Heiligen Geistes, Suite Nr. 4, freudenreiches Geheimnis, der zwölfjährige Jesus im Tempel, Suite Nr. 5, schmerzreiches Geheimnis, die Kreuzigung (man achte auf die Verwandtschaft der einstimmigen Sarabande mit dem „Et incarnatus est“ aus der h-moll Messe), Suite Nr.6, glorreiches Geheimnis, die Auferstehung, schon Casals sprach von dem „Geläut der Osterglocken“ des Prélude. So gibt Steven Isserlis eine faszinierende und inspirierende Deutung. Sie ist auch gültig für mich, wenngleich es natürlich nicht der einzige Zugang sein kann. Diese Suiten haben scheinbar nie endende Reflexionsflächen. Deswegen stellt sich auch immer wieder ein Gefühl der Unzulänglichkeit und des Zweifels beim Interpreten ein. Seine Aufgabe scheint nicht lösbar. Anner Bylsma sagt zu Recht, es sei wie ein Schachspiel mit einem Mitspieler, der zehnmal überlegen ist. – Gerade aber deswegen muss die Interpretationsgeschichte weitergeschrieben werden, gerade wegen der ins Unendliche weisenden Reflexionsmöglichkeiten empfinden wir diese Musik so besonders kostbar und so rätselhaft.
Mein persönlicher Weg
Wenn ich die Suite Nr. 1 beginne, ist mir als ob ich eine Reise auf einem Schiff antreten würde, begleitet von leichtem Wind und den an die Schiffsplanken sanft anschlagenden Wellen. Und wenn ich mit der Suite Nr. 6 schließe, ist mir, als ob ich nach allen Stürmen, Höhen, Triumphen, Enttäuschungen und Erniedrigungen (die „erniedrigte“ Saite der Suite Nr. 5, ein Symbol für „Erniedrigung“) ein Fest feiern dürfte, begleitet von einem „in die freie Natur hinausgetragenen Geläut“ (Paul Tortelier), eine „Auferstehung“, eine „Reinigung“, ein „Neubeginn“.
Mein Kollege und Freund, Prof. Peter Langgartner vom „Mozarteum“ in Salzburg hatte mich darauf aufmerksam gemacht, dass sich im Prélude der ersten Suite der Luther Choral „Vom Himmel hoch, da komm ich her“ verbirgt.
Ich hatte schon immer vermutet und war dankbar für diese Bestätigung, dass – in Analogie zu den Entdeckungen von Prof. Helga Thöne in den Partiten und Sonaten für Violine solo – in den Cellosuiten Choräle und Glaubensbotschaften eingewoben sind. Deshalb habe ich mich entschlossen, auf musikalische Art und Weise eine spirituelle Tür zu den Suiten zu öffnen und den Suiten 1, 3, und 5 im Spiegel der Klänge aus dem Werk „One 8“ von John Cage Choräle hinzugefügt, die nach meiner Überzeugung mit einer Botschaft der Suiten korrespondieren. Meine Erfahrung mit der Musik von John Cage ist eine ähnliche wie der mit Bach. Seine Musik schafft innere Sammlung, Stille. Cage sagt, Musik hätte den Zweck „den Geist zu reinigen und zur Ruhe zu bringen, um ihn für göttliche Einflüsse empfänglich zu machen.“ Mein Sohn Immanuel intoniert die Choräle zu dieser besonderen Musik, danach erklingen jeweils zwei Bach Suiten. Durch diese Konzeption entsteht eine vielleicht von Bach beabsichtigte Darstellung der Trinität, die auch die Aufteilung der Sätze nahelegt: Suite 1 und 2 mit den Menuetten, Suite 3 und 4 mit den Bourrées und Suite Nr. 5 und 6 mit den Gavotten. Ich denke in diesem Zusammenhang auch an entsprechende ikonographische Darstellungen, beispielsweise von Matthias Greuter aus dem Jahr 1610 „Aeternitas“:
Das Instrument
Alle Suiten sind nach meiner Überzeugung für Violoncello geschrieben. Die Diskussion hierüber entzündet sich an Suite Nr. 6. In der Abschrift von Anna Magdalena Bach steht eindeutig: „Suites a Violoncello solo senza Basso“ und bei Suite Nr. 6 “ a cinqua cordes“, also für ein Violoncello mit fünf Saiten. Die Diskussion, ob diese Suite für ein anderes Instrument geschrieben wurde, halte ich für abwegig.
Suite Nr. 5 ist für ein Violoncello scordatura geschrieben, d.h. die A-Saite wird um einen Ton nach g heruntergestimmt.
Ich bin in der glücklichen Lage, alle Suiten nach den Vorschriften von Anna Magdalena Bach auf meinem herrlichen original fünfsaitigen Violoncello von Jan Pieter Rombouts, Amsterdam, zu realisieren. Für die Suiten 1 bis 5 verwende ich einen anderen Steg, Saitenhalter und Obersattel. Ich spiele umsponnene Darmsaiten der Firma Pirastro („oliv“) und eine Sonderanfertigung für die E-Saite der sechsten Suite. Desweiteren nutze ich einen Barockbogen von Nelly Poidevin, Dinan (Frankreich) aus dem Jahr 2015.
Die Stimmung
Bezüglich der Höhe des Kammertones habe ich immer wieder experimentiert. Schließlich habe ich mich für 432 Hz entschlossen. Es war eine Gefühlsentscheidung. Ich freue mich, dass auch Nikolaus Harnoncourt sich für den Kammerton 432 Hz einsetzte. Zum entsprechenden Kongress in Freiburg schrieb er: “ … Musik würde „entschrillt“, also wieder ihre Natürlichkeit und Lockerheit gewinnen …“ und mein Freund und Kollege, der Bratschist Hariolf Schlichtig schreibt: „Eine „Entspannung“ der heutigen Stimmung … kommt nicht nur der menschlichen Stimme zu Gute, sie bedeutet auch eine Befreiung von zu viel Druck für die Streichinstrumente …, die mit einer tieferen Stimmung wesentlich mehr Sonorität, Charakter und Klangfarbenvielfalt entwickeln können …“. Des Weiteren heißt es im Kongressbericht: „… Wussten Sie, dass unser Körper und seine Zellen auf dem Grundton 432Hz schwingen? Töne in genau dieser Frequenz, …. aber auch das Sonar der Delphine und tibetische Klangschalen … – können deshalb unsere Zellen harmonisieren und unseren Körper besonders gut in seiner Heilung unterstützen. 432Hz kann auch unsere Gehirnhälften ausgleichen, was seelische Stabilität bewirkt und die spirituelle Weiterentwicklung verstärkt. …. Ein wunderbarer Weg also über die Musik mit dem Kosmos in „Ein“-Klang zu kommen. Ist der Mensch richtig „gestimmt“ – ist sein Leben auch stimmiger… Die gesundheits-, kunstfördernde und therapeutische Wirkung des 432Hz Kammertons ist vielfach erforscht und bewiesen. Ein höchst interessantes und aktuelles Thema für Musiker sowie für beratende und therapeutische Berufsgruppen! …“
Ich bin kein Anthroposoph, fand aber diesen Ansatz sehr interessant, und vor allem entspricht er meiner positiven Erfahrung.
Dank
Ich danke sehr herzlich meinen Freunden, die das Werden dieser Aufnahme in wunderbarer Weise unterstützt haben: Schwester Michaela von den Dillinger Franziskanerinnen, in deren Christkönigskirche die Aufnahmen entstanden, und Prof. Dr. Hanspeter Heinz, Priester, geistiger und geistlicher Ratgeber.
Für mich war die Neuaufnahme der Bach-Suiten wie die Ersteigung des höchsten Berges, eines Mount Everest. Das Leben wandelt sich dadurch, vieles relativiert sich. Der Blick von diesem hohen Berg zeigt die Klarheit und Reinheit der Musik Bachs, die über unser Sein hinausweist und eine Türe aufstößt, die unser Leben in neuem Licht und Sinn erscheinen lässt.
Julius Berger, Januar 2017
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