Soldanella

SOLDANELLA

Renaissance der Solomusik für Violoncello

Eine Projektskizze

Die schönsten Tage in meiner Allgäuer Heimat erlebe ich, wenn ich im Frühjahr mit meinen Schiern einen Berggipfel ersteige. Oben auf dem Berg ist noch Winter und wenn ich über die Gipfelhänge bei strahlender Sonne nach unten gleite, dann erlebe ich zwei Jahreszeiten, Winter und Frühling. Die Schneegrenze, dort wo ich meine Schier zum Abstieg auf den Rucksack schnalle, fasziniert mich immer besonders. Hier blühen die ersten Blumen des Jahres, die blauen Soldanellen, die ihre Blüten durch den tauenden Schnee recken. Dieses Bild empfinde ich immer wieder als Wunder.

Ich musste an dieses Bild denken, als ich die zum großen Teil vergessene, erste Solomusik für Violoncello im 20. Jahrhundert entdeckte, die ersten Blüten nach den Solosuiten von Johann Sebastian Bach nach fast 200-jähriger Pause. Im 19. Jahrhundert wurden die Bach´schen Suiten mit Begleitung gespielt, sogar Robert Schumann hat eine Klavierbegleitung hinzukomponiert. Eine Solodarbietung galt für das Publikum als „Zumutung“. Dieses Urteil hielt sich, bis der legendäre Pablo CASALS am Beginn des 20. Jahrhunderts die Suiten, wie von Bach vorgeschrieben „senza Basso“, also ohne Begleitung in seinen Konzerten zu einem weltweiten Erfolg machte und weltweiter Resonanz führte. Das Original war gerettet und hat wohl auch Komponisten am Beginn des 20. Jahrhunderts zum Umdenken gebracht. In den gängigen Nachschlagewerken und Lexika (z.B. Cambridge University Press) werden die Solosuiten von Max REGERund die berühmte Solosonate von Zoltan KODÁLY, beide Werke entstanden im Jahr 1915, als erste Solowerke nach dem Suitenzyklus von Bach genannt.

Ich ging dieser Aussage nach und wollte wissen, ob es nicht noch weitere Werke gab. Zufälligerweise stieß ich auf den Regerfreund, den Geiger und Komponisten Adolf BUSCH (1891-1952). Die beiden kannten sich seit dem Jahr 1909.

Mich faszinierte der Lebensweg eines Menschen, der sagte: „Ich bin ja weniger ein Geiger, als ein Musiker, der Geige spielt“, der aus Abscheu gegen den antijüdischen Terror der Nationalsozialisten unter schwersten Entbehrungen mit seinem Freund Rudolf SERKIN Deutschland verließ, der engen Kontakt zu Thomas MANN, Paul KLEE und Albert EINSTEIN hatte. Klee malte das Bild „Heroische Bogenstriche“ (1938), Einstein schrieb 1933 an Busch:  „ Wenn ein größerer Teil der deutschen Intellektuellen Ihr moralisches Format hätte, so wäre den Deutschen die Erniedrigung erspart geblieben, unter der sie heute leiden.“ Wie Casals, der aus Protest gegen das Franco Regime Spanien verließ, so setzte auch Busch Maßstäbe für ein Leben in Verantwortung. Und dann noch dies: er komponierte auch für Violoncello solo, für seinen Bruder Hermann, und dies sogar noch vor Reger, im Jahr 1914 entstand seine erste Solosuite. Das Werk ist vollkommen unbekannt, es taucht in der Fachliteratur nicht auf. Ich habe dieses von sehr persönlicher Eigensprachlichkeit geprägte Werk mit Begeisterung meinen Entdeckungen, meinen „Soldanellen“, hinzugefügt, außerdem noch „Präludium und Fuge“ d-Moll für Violoncello solo, entstanden 1922.

Wenn man sich mit Adolf Busch und Pablo Casals beschäftigt kommt man an einem Namen nicht vorbei: Sir Donald Francis TOVEY (1875-1940), Komponist und Musikgelehrter. Tovey war mit Joseph JOACHIMbefreundet, für Casals schrieb er ein Cellokonzert, Casals nannte ihn ein „Genie“. Tovey war der Verantwortliche der Adolf und Fritz Busch die Ehrendoktorwürde in Edinburgh antrug. In seiner Laudatio sagt Tovey über die Brüder Busch: „… artists who had never made any concession to vulgar demands, and who had constantly insisted on a hearing for things beyond the range of contemporary fashions…”. Als ich das kompositorische Werk von Tovey untersuchte, stieß ich auf eine Solosonate für Violoncello op. 30 mit einer 20-minütigen, großartigen Passacaglia, entstanden 1910. Auch dieses Werk hat mich begeistert, die wohl erste Blüte im 20. Jahrhundert, hochvirtuos und archaisch zugleich.

Schließendlich stieß ich auf eine Solosuite für Violine, Adolf Busch gewidmet, von einem mir bis dahin unbekannten Komponisten Walter COURVOISIER (1875-1931). Auch er war mit Thomas MANN gut bekannt und unterstützte gemeinsam mit ihm politische Anliegen (1926, München). Der Schweizer Courvoisier war Arzt in Basel. Er folgte seiner inneren Stimme und studierte nach seiner Ausbildung zum Arzt bei Ludwig Thuille in München Komposition, wo er später Professor an der damals neuen Musikhochschule wurde. Courvoisier schrieb unter dem Eindruck des Endes des ersten Weltkrieges sein Hauptwerk, die Kantate „Auferstehung“ und ich konnte es kaum glauben, auch Suiten für Violoncello, vollkommen unbekannt, 2021 erstmalig gedruckt. Am Weihnachtsfest 2021 lag die wunderschöne Ausgabe, herausgegeben und geschenkt von Oliver Fraenzke, in meiner Post. Ihm habe ich meine Courvoisier Entdeckung zu verdanken. Die hochinteressante Suite h-Moll (1921) füge ich meiner Sammlung mit großer Überzeugung hinzu.

Mein Ausgangspunkt ist die Suite d-Moll von Max REGER (1873-1916), um die Jahreswende 1914/15 entstanden, die mich seit meiner Studienzeit begleitet. Die von mir hochgeschätzte und relativ häufig gespielte Sonate von KODÁLY habe ich nicht berücksichtigt, es gibt hervorragende Aufnahmen. Reger komponierte bereits 1899 unbegleitete Werke für Violine solo, er war ein Pionier der Solomusik für Streicher: „ein tolles Unterfangen … sehr schwer (einige Fugen und eine Chiaconna!)“. In seinen Solowerken zeigt er sich als Meister der Reduktion, eine Qualität, an die man in Zusammenhang mit seiner Musik zunächst nicht denkt, deren Entdeckung aber faszinierend ist.

Wenn ich auf die von mir gesammelten ersten Blüten der Cellomusik nach Johann Sebastian Bach blicke, dann spüre ich Sinn in meinem Leben. Das Kostbare, das Menschen geschaffen haben, darf nicht vergessen werden. Es dient einer „besseren Welt“ (Karl Popper), es sind Samen, die begossen werden sollen, die aufblühen sollen wie die Soldanellen an der Schneegrenze oben auf dem Berg.

Julius Berger, Februar 2022

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